Kaum ein Thema wird streitbarer in der Tai Chi -“Szene“ diskutiert als dieses. Verschiedene Schulen haben darüber unterschiedliche Ansichten. Sich darin zurechtzufinden ist eine (Kampf?-) Kunst für sich. Nach 20 Jahren des Suchens möchte ich im Folgenden meine Sicht auf diese Frage darstellen.

Mein Lehrer Fernando Chedel hat oft gesagt, dass es viel schwieriger ist zu sagen, was Tai Chi Chuan IST, als zu sagen, was es NICHT ist.

Ich habe ihm anfangs nicht geglaubt und dachte, er wolle mir etwas verheimlichen. Inzwischen weiß ich es besser. Das Problem bei dem Versuch, Tai Chi Chuan zu beschreiben ist, dass die Menschen mit hartnäckigen Bildern ausgestattet sind. Der Versuch, zu zeigen was IST bedeutet auch oft, dass man genau das Gegenteil zeigt von dem, was der Andere GLAUBT.

Ein schönes Beispiel dafür ist meine erste Begegnung mit Fernando. Ich erwartete einen asketischen, möglichst chinesischen, vegetarischen Eremiten, der mir die esoterischen Zusammenhänge erklärt.

Was ich bekam war ein beleibter, argentinischer, gerne Fleisch essender und laut lachender, anfassbarer, geselliger Mensch, der sehr konkret Dinge zeigte und vor allem fühlbar machte.

So dachte ich anfangs: ‚Das kann doch nicht sein! Es entspricht keinem der Bilder, die ich von chinesischen Meistern habe! Wie kann sich dieser dicke Mann überhaupt bewegen?‘

Nun, einige Jahre später, habe ich inzwischen mehrfach, teils schmerzhaft, erfahren müssen, dass sich dieser Mann nicht nur bewegen kann, sondern schneller, präziser, eleganter und stärker als jeder Andere, den ich bis heute getroffen habe. Und ich habe mit einigen echten ‚Koryphäen‘ trainiert, seitdem ich vor über 25 Jahren mit der Kampfkunst angefangen habe!

Wir alle tragen solche Bilder in uns. Die Aufgabe als TCC-Lehrer ist es u.a. aufzuzeigen und spürbar zu machen, was an diesen Bildern stimmen mag und eben auch, was nicht.

Also zurück zum Thema:
Was ist Tai Chi Chuan (TCC) nach meiner heutigen Sicht…und was nicht?

„Tai Chi Chuan“ (oft auch taijiquan oder Taiji Quan oder T‘ai Chi Ch‘uan geschrieben) ist Chinesisch und bedeutet übersetzt in etwa „die Faust des Tai Chi“. Mit „Tai Chi“ ist das philosophische Modell gemeint, das die meisten von uns in Form des „Yin-Yang-Symbols“ kennen und das uns heutzutage an allen Ecken begegnet.

Tai Chi - Ying und Yang

Dass in dem Namen der Begriff „Faust“ (Chuan) auftaucht, weist auf den Kampfkunst-Aspekt der Kunst hin. Die Verbindung zum taoistischen Prinzip des Tai Chi hingegen weist u.a. auf die philosophisch-spirituelle Dimension der Kunst hin.

So lehrt der Taoismus beispielsweise, dass Weiches Hartes überwinden kann oder dass entspanntes und geduldiges Abwarten des richtigen Moments (der chinesische Begriff dafür lautet „Wu Wei“, was viele meiner Meinung nach fälschlicherweise mit „Nichtstun“ übersetzen) zum Ziel führen kann usw.

In dieser Verbindung des taoistischen Gedankenguts mit der Kampfkunst kann man schon erkennen, worauf bei der Ausübung des Tai Chi Chuan bzw. den Ausführungen der darin enthaltenen Bewegungen Wert gelegt wird, nämlich auf Entspannung und Weichheit.

Ursprünglich wurde Tai Chi Chuan als komplettes System der Kampfkunst gelehrt. Heute wird es meist „abgespeckt“ als Gesundheits- und Bewegungskunst unterrichtet, von der wundersame positive Wirkungen auf die Gesundheit berichtet werden.

In den Jahren, in denen ich mich mit Tai Chi Chuan beschäftige, habe ich festgesellt, dass die unterschiedlichen Aspekte (spiritueller-, Kampf- oder Gesundheitsaspekt) je nach momentaner Lebenslage unterschiedlich stark zur Geltung kommen können.

Kampfkunstinteressierte, „handfeste“ Personen werden vom spirituellen Aspekt teilweise eher wenig angezogen oder sogar abgestoßen, jedoch kann es sein, dass sie sich irgendwann einmal nach spiritueller Unterstützung sehnen, und dann kann Tai Chi Chuan dort eine Hilfe sein.

Spirituelle Sinnsucher können leicht den Kontakt zur irdischen Welt verlieren und sich in esoterisch-mystischen Zirkeln oder Gedanken verlieren. Hier kann Tai Chi Chuan gegebenenfalls erden und die Dinge auf ein „normales Maß“ zurechtstutzen.

Und dann gibt es ja noch den Gesundheitsaspekt. Ich meine, dass dieser Aspekt beiden Arten von Suchenden sowie auch allen anderen Menschen zur Verfügung steht: Dem Kämpfer, dem Philosophen, dem „Normalen“, aber auch den „Alten“ und den „Versehrten“, „Behinderten“, „Kranken“ usw.

Denn die Bewegungen des Tai Chi Chuan sind in ihrer Ausführung solchermaßen gestrickt, dass sie zur Gesundung streben.

TCC ist nicht...

  • …Präsentation / Show, eine Entspannungsübung allein, Turniersport.
  • …eine ringende, kuschelnde oder allein nachgiebige Kunst.
  • …Form (Choreografie) alleinQigong allein.
  • …Gymnastik; auf Muskelkraft beruhender Kampfsport; Ansammlung von Technik; isolierte Bewegung.
  • …ein Sport, bei dem es ums Gewinnen, Medaillen, Zertifikate oder Pokale geht.
  • …fixe Techniken für festgelegte Situationen; Reaktion über die Augen zuerst.
  • …schnell im Erlernen, langsam in der (oder gänzlich ohne) Anwendung.
  • …Sport allein, Kampf allein, es geht ums Gewinnen, „wer ist stärker“.

TCC ist...

  • …eine Kampfkunst, die auf Entspannung beruht
  • …eine „boxende“ Kunst mit Schlägen, Tritten, Hebeln und allem, was der Körper ermöglicht (also auch Ringen). Nachgiebigkeit und sanfte Berührung sind wesentliche Prinzipien, bedeuten jedoch nicht „Erschlaffung“ und „Knuddelmomente“.
  • …INTEGRATION von Form und Funktion. TCC ist ein komplettes System, in dem die einzelnen Elemente aufeinander abgestimmt sind und sich gegenseitig bedingen. Die Elemente sind: Qigong, Basisübungen (Tsaos), Formen, Tui Shou (Push Hands).
  • …aufgebaut auf den Prinzipien, wie sie in den Klassikern des TCC beschrieben wurden: Entspannung, Aufrichtung, keine Benutzung von überlüssiger Muskelkraft (Li), dafür Entwicklung ‚innerer Kraft‘ (jing); Integration des gesamten Körpers in der Bewegung.
  • …eine Methode zur Überwindung des Egos und zur Erkenntnis des Selbst.
  • …eine Kampfkunst, die maßgeblich über das Erspüren und interpretieren von (gegnerischer) Energie durch Berührung und Kontakt funktioniert.
  • …langsam im Erlernen, schnell in der Anwendung.
  • …(humanistische) Philosophie, die uns durch die Körperarbeit durchdringt.